Zwangssterilisationen

Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

Am 1. Januar 1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Als erbkrank kategorisiert, gerieten viele der Insassen der Rotenburger Anstalten in den Fokus des neuen Gesetzes.

Leitung und Anstaltsärzte in Rotenburg zeigten bis zum 30. September 1934, also innerhalb der ersten neun Monate nach Inkrafttreten, 823 Patientinnen und Patienten der Rotenburger Anstalten beim Gesundheitsamt Rotenburg als erbkrank an.

Pastor Buhrfeind befürwortete wie andere Vorsteher evangelischer Einrichtungen, an den Sterilisationen nach diesem Gesetz mitzuwirken. Er setzte sich dafür ein, dass das Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses in den Kreis der für die Sterilisationen zugelassenen Krankenhäuser aufgenommen wurde.

„Nach erfolgter Unfruchtbar ­machung ist eine Beurlaubung wieder möglich.“

Direktion der Rotenburger Anstalten an die Eltern von Insassen, 1934 (ARW)

Sterilisationen in Rotenburg

Im April 1936 versandte der Centralausschuss der Inneren Mission eine Rundfrage zur Handhabung des Gesetzes. Die Antwort, darauf handschriftlich notiert: Seit 1934 erfolgten in Rotenburg 162 Sterilisationen wegen des Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses, davon 106 wegen „angeborenem Schwachsinn“, 51 wegen „erblicher Fallsucht“, drei Opfer waren unter 14 Jahre, 65 waren noch nicht 21 Jahre alt.

Bis 1943 wurden nachweislich 238 männliche und 97 weibliche Insassen der Rotenburger Anstalten sterilisiert. (ARW VA 642)

Zwei junge Frauen, die zu den „Pfleglingen“ der Rotenburger Anstalten zählten, überlebten den Eingriff nicht. Adele Nöbling, im Juli 1935 sterilisiert, starb kurz nach der Operation, wenige Tage vor ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag. Die dreizehnjährige Else Warnken verschied im Juni 1937 an den Folgen der Sterilisation.

Patienten und Angehörige

Das Gesetz förderte die Entmündigung von Patientinnen und Patienten der Rotenburger Anstalten. Ob Urlaub gewährt wurde oder Kranke zu Angehörigen nach Hause entlassen werden konnten, machte die Anstaltsleitung davon abhängig, dass die Angehörigen einer Sterilisation zustimmten.

 

Im Juni 1934 schrieb die Direktion an den Vater von Rudolph O. aus Hannover, der mit der Diagnose „genuine Epilepsie“ in den Rotenburger Anstalten lebte:

„Ihr Sohn fällt auch unter dies neue Gesetz und wir dürfen ihn deshalb vorläufig auch nicht beurlauben. Wir geben Ihnen anheim, uns zu ermächtigen, dass wir einen Antrag auf Unfruchtbarmachung Ihres Sohnes beim zuständigen Erbgesundheitsgericht stellen. Nach erfolgter Unfruchtbarmachung ist eine Beurlaubung wieder möglich.“

Rudolf war zu diesem Zeitpunkt erst zehn Jahre alt. (ARW BA 2641)

Einem anderen Vater schrieb sie: „Auch dürfen Sie nicht außerhalb der Anstalt allein oder mit mehreren Pfleglingen spazieren gehen.“ (ARW BA 4180)

Die Betroffenen waren oftmals noch sehr jung, als über ihren Kopf hinweg die Entscheidung zur Unfruchtbarmachung getroffen wurde. In anderen Fällen stimmten sie – unter Druck gesetzt – selbst zu. So willigte die 1910 geborene Frau B. ein, sich sterilisieren zu lassen, damit sie weiterhin ihre Eltern besuchen konnte.

Beteiligte mediziner

Wie die Anstaltsleitung wirkte das medizinische Personal in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Zielsetzungen an den Zwangssterilisationen mit. Die Anstaltsärzte waren eingebunden in das Prozedere aus Anzeige von Patienten, die als erbkrank nach dem Gesetz bewertet wurden, und Antragsstellung beim Erbgesundheitsgericht. In Rotenburg gab es darüber hinaus die Besonderheit, dass Anstaltsärzte zugleich als Beisitzer im Erbgesundheitsgericht saßen. Sie wirkten also daran mit, über ihre eigenen Anträge auf Unfruchtbarmachung zu entscheiden. Den Chirurgen und Schwestern des Diakonissenkrankenhauses dagegen oblag die Durchführung der Sterilisationen.

Ärzte des Diakonissen­ krankenhauses

Dr. Ernst Schmidt, seit 1915 als Arzt für Chirurgie und Frauenheilkunde approbiert, arbeitete von 1924 an als Nachfolger des Chirurgen Dr. Grußendorf am Krankenhaus in Rotenburg.

Dr. Walter Mecke, geboren 1904, wirkte von 1937 bis 1969 im Diakonissenkrankenhaus als leitender Arzt für Innere Medizin. Der Nachfolger von Dr. Roters und Dr. Krücke am Krankenhaus war seit 1933 SA-Mitglied und betätigte sich als SA-Sturmbann-Arzt. Er trat 1937 in Rotenburg in die NSDAP ein. Im Entnazifizierungsverfahren nach dem Krieg wurde er als entlastet eingestuft. (ARM 516)

Dr. Ernst Schmidt, als Chirurg im Diakonissen-Krankenhaus zuständig für die Sterilisationen (Slg. Klaus Brünjes)

Dr. Adolf Ressel (1857–1953), seit 1911 leitender Arzt, Amtsarzt des Kreises/Kreisarzt Rotenburg, in seiner Funktion als Kreisarzt zeitweilig auch Beisitzer am Erbgesundheitsgericht Verden, 1936 als Leiter des staatlichen Gesundheitsamts nach Bunzlau versetzt. In seinem Aufsatz in der Festschrift der Rotenburger Anstalten zum fünfzigjährigen Bestehen identifiziert er sich mit eugenischen Zielsetzungen: „Schließlich sind es auch eugenische Gründe, welche für die frühzeitige Unterbringung eines Epileptikers in einer Anstalt sprechen, da durch die Bewahrung in der Anstalt die Erzeugung von Nachkommenschaft verhindert wird, die minderwertig eine Belastung der Allgemeinheit darstellt.“

Medizinalrat Dr. Ressel, leitender Arzt der Rotenburger Anstalten, Krankheitsbild der Epilepsie und des Schwachsinns, in: 50 Jahre Arbeit an den Epileptischen und Blöden in Rotenburg (Hannover), 1880–1930, S. 62

Dr. Ernst Rustige (1900–1937), Abteilungsarzt der Rotenburger Anstalten, trat auf Veranstaltungen für die NS-Rassenlehre 1933 und 1934 in Rotenburg auf. Er wurde 1936 im Herbst Dr. Ressels Nachfolger und saß wie dieser zeitweilig im Erbgesundheitsgericht Verden als Beisitzer. Als überzeugter Nationalsozialist denunzierte er 1935 beim Erbgesundheitsgericht Verden vier Frauen, die – obwohl noch nicht sterilisiert – in eine offene Anstalt verlegt werden sollten. Darauf wurden die Unfruchtbarmachungen nachgeholt.

(ARW BA 2664, 2684, 2685 und 2686)

Dr. Fritz Wening, von 1937 an leitender Arzt der Heil- und Pflegeanstalt Rotenburg, Nachfolger von Dr. Rustige, war zugleich Militärarzt im Kriegsgefangenenlazarett auf dem Anstaltsgelände. Dr. Wening agierte auch als Gutachter in gerichtlichen Verfahren zur Zwangssterilisation

Dr. Kurt Rudolf Ferdinand Magunna, geb. 1893, wurde im August 1941 leitender Arzt in den Rotenburger Anstalten. Seit 1933 NSDAP-Mitglied, arbeitete er als Nachfolger des 1940 gestorbenen Dr. Wening als Anstaltsarzt in Rotenburg.

Zwangs­sterilisationen im Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses

Am 1. Januar 1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Bereits in den ersten Monaten zeigten Leitung und Ärzte der Rotenburger Anstalten 823 ihrer Bewohnerinnen und Bewohner beim Amtsarzt als „erbkrank“ oder „erbkrankverdächtig“ an. Bis Anfang 1936 waren 162 Insassen zwangsweise sterilisiert worden.

Nach der Anzeige und Begutachtung durch den Amtsarzt erfolgte ein Antrag auf Unfruchtbarmachung beim zuständigen Erbgesundheitsgericht.

Etliche Betroffene ebenso wie Familienangehörige sahen sich zum Einverständnis gedrängt, da andernfalls Beurlaubungen oder Entlassungen nicht mehr gewährt wurden.

Nach richterlicher Entscheidung führte der Chirurg des Diakonissenkrankenhauses, Dr. Ernst Schmidt, die Sterilisationen durch.

Der langjährige Anstaltsarzt Dr. Adolf Ressel wirkte auch als Amtsarzt in Rotenburg. Er saß ebenso wie sein Nachfolger Dr. Ernst Rustige zeitweilig als Beisitzer im Erbgesundheitsgericht Verden. Das zeigt, dass eine unabhängige amtsärztliche oder richterliche Kontrolle der Unfruchtbarmachungen nicht gegeben war.

Das neue Gesetz mit seinen Durchführungsverordnungen ließ die Entscheidungen rechtens erscheinen. De facto aber wurden die betroffenen entmündigt und entrechtet.

Viele der von Unfruchtbarmachung Betroffenen und ihre Angehörigen schwiegen jahrzehntelang aus Angst oder Scham. Das Gesetz wurde erst 2007 vom deutschen Bundestag geächtet und die Opfer gesellschaftlich rehabilitiert. Seit 1980 konnten Zwangssterilisierte eine kleine Einmalzahlung als Härtefallregelung zur Entschädigung erhalten, später monatliche Beihilfen.

Pastor Johann Buhrfeind (1872–1950), etwa 1944 (ARM AN 2). Wie viele Zeitgenossen hatte Buhrfeind keine Vorbehalte dagegen, eugenische Zielsetzungen zu unterstützen.

„… schnell, reibungslos und in großem Umfang“

(Rotenburger Anstalten, Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel? Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission in den Jahren 1933–1945, Rotenburg 1992, S. 11)

„Mit Rücksicht auf die zahlreichen Fälle von Sterilisierungen, die unter den Insassen unserer Anstalt (980 belegte Betten) ausgeführt werden müssen, bitte ich schon mit Rücksicht auf die Ersparung der Reisekosten und zur schnelleren Durchführung zuständigenorts zu befürworten, daß das Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses in Rotenburg/Hann. für die Ausführung des chirurgischen Eingriffs an Erbkranken bestimmt wird.“​

Schreiben Pastor Buhrfeinds an den zuständigen Regierungspräsidenten in Stade vom 21. März 1934 Buhrfeind bemühte sich um die Zulassung des Diakonissenkrankenhauses für Sterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Im Juni 1934 erhielt das Krankenhaus die Genehmigung, die Operationen auszuführen.

Wie gehts weiter?

Informationen zu den Informationen über die jüdischen Opfer