Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich in Europa und den USA eugenische Vorstellungen. Verfechter der Eugenik, die auch als Erbgesundheitspflege oder Erbhygiene bezeichnet wurde, wollten die Bevölkerung mit gesundheits- und bevölkerungspolitischen Maßnahmen „verbessern“. Zu der sogenannten „positiven Eugenik“ zählten Maßnahmen wie Gesundheitsfürsorge, Mütterberatung usw. Die „negative“ Eugenik zielte darauf, als minderwertig angesehene Menschen daran zu hindern sich fortzupflanzen. In den 1920er Jahren war in einigen medizinischen und sozialfürsorgerischen Kreisen die Idee weit verbreitet, dass nur gesunde Menschen Kinder bekommen sollten. Die Nationalsozialisten machten sich diese Vorstellungen zu eigen und setzten sie bald nach der „Machtergreifung“ radikal um. Im Sommer 1933 wurde das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen, dem zufolge Menschen mit bestimmten Krankheiten sterilisiert werden sollten. Es trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Wörtlich hieß es im Gesetzestext: „Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, zirkulärem (manisch-depressivem) Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz (Huntingtonsche Chorea), erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schwerer erblicher körperlicher Mißbildung“ sowie an „schwerem Alkoholismus“.
Im Deutschen Reich wurden auf dieser Grundlage in den Jahren von 1933 bis 1945 mehr als 360 000 Menschen zwangsweise sterilisiert.
Mit eugenischen Ideen und der Praxis der Zwangssterilisationen ging eine Abwertung von kranken und behinderten Menschen einher. Damit ebnete die Umsetzung eugenischer Zielsetzungen der sogenannten „Euthanasie“ den Weg (Was heißt Euthanasie). Die Nationalsozialisten maßten sich an, Menschen in lebenswert und „lebensunwert“ einzuteilen. „Ballastexistenzen“ sprachen sie das Lebensrecht ab. Bald gerieten ihnen auch Menschen ins Visier, die – etwa weil sie obdachlos oder erwerbslos waren – als „asozial“ oder „arbeitsscheu“ klassifiziert wurden. Die „rassehygienische“ Ideologie der Nationalsozialisten sortierte vor allem Juden sowie Sinti und Roma aus der „Volksgemeinschaft“ aus.
Im Zuge der Kriegsvorbereitungen und besonders nachdem das nationalsozialistische Deutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hatte, radikalisierte sich die menschenverachtende NS-Politik weiter. Kranke und Behinderte waren die ersten, die in Gaskammern umgebracht wurden. Zehntausende fielen den gezielten Mordaktionen der NS-„Euthanasie“ zum Opfer. Im Lauf des Krieges traf die nationalsozialistische „Ausmerze“ Juden, Sinti und Roma und zahlreiche weitere Gruppen.
Das Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses war als evangelisches, nicht staatliches Krankenhaus nicht verpflichtet, Sterilisationen nach dem Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses durchzuführen. Dennoch beantragte Pastor Buhrfeind 1934 als Direktor der Rotenburger Anstalten der Inneren Mission sowie Leiter des Diakonissen-Mutterhauses und des dazugehörigen Krankenhauses, Sterilisationen nach dem neuen Gesetz durchführen zu dürfen. Buhrfeind folgte damit der Empfehlung des Centralausschusses der Inneren Mission, evangelische Krankenhäuser sollten bei freiwilligen Sterilisationen mitwirken. In den Jahren 1934 bis 1945 wurden in Rotenburg 335 Bewohnerinnen und Bewohner der Rotenburger Anstalten sterilisiert. Dabei verstarben zwei Frauen an den Folgen dieser Eingriffe.
Mit den „Euthanasie“-Bestrebungen wurden die Rotenburger Anstalten ab 1940 konfrontiert. Sie gerieten unter den Druck, ihre Insassen im Rahmen der Aktion T4 – benannt nach der Adresse der Berliner Zentrale für die systematische Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens in der Tiergartenstraße 4 – zu erfassen und nach Berlin zu melden. Die Anstalt versuchte in dieser Situation zunächst Zeit zu gewinnen. Nachdem die Gasmorde an Kranken und Behinderten im August 1941 von Hitler gestoppt worden waren, starben die meisten der Rotenburger „Euthanasie“-Opfer im Rahmen der folgenden dezentralen Mordaktionen. Sie wurden in andere Anstalten gebracht (Kinderfachabteilung Lüneburg, Tötungsanstalt Brandenburg/Havel, Anstalten Eberswalde, Kaufbeuren/Irsee, Uchtspringe u.a.) und starben an Hunger, Entkräftung und gezielten tödlichen Medikamentengaben. Der Anstaltsleitung gelang es nicht, ihre Insassen zu schützen. Zwischen 1940 und 1945 wurden mindestens 562 Bewohnerinnen und Bewohner der Rotenburger Anstalten, etwa die Hälfte der Insassen, ermordet.
Ansicht vom Verwaltungsgebäude der Heil- und Pflegeanstalt Rotenburg, erbaut 1926/27. Foto: Sammlung Klaus Brünjes