Leben einer Diakonisse

70 Jahre im Diakonissen-Mutterhaus

6 Oberinnen, 5 Vorsteher, ständige Umbauten im Gelände, zahlreiche Veränderungen im eigenen Bereich, das ist sozusagen der Rahmen des Eigentlichen

Vorausgegangen war eine sorglose Kindheit in einer sächsischen Kleinstadt. Schulabschluss im April 1945 bei Kanonendonner, 3 Wochen später Kriegsende, von Bomben zerstörtes Elternhaus, Berufsaussicht gleich null! Wunschtraum Kunststudium unmöglich zu verwirklichen.

 

Also Krankenschwester. Nach einigen Schwierigkeiten Flucht in den „Westen“ zur Rotenburger Verwandtschaft.

 

Mein Wunsch: Eintritt ins Rotenburger Mutterhaus kam spontan, war aber nicht zu erschüttern, trotz aller Bedenken der Familie.

Warum ich damals Diakonisse geworden bin, dieser Frage habe ich viele Male gegenüber gestanden, ohne sie je richtig beantworten zu können. Eine liebe ältere Mitschwester sagte einmal:

„Der liebe Gott hat dich haben wollen!“

Warum ausgerechnet mich? Seine Wege sind unausforschlich!

 

Am 05. April 1948 stolperte ich gewissermaßen ins Mutterhaus hinein, ahnungslos, was mich da erwartete!

 

Hier begann für jede Neugekommene die „Probeschwesternzeit“. Sie dauerte etwa ein Jahr und fing mit der Hauswirtschaft im Mutterhaus an. Wer meinte, vom Saubermachen etwas zu verstehen, musste hier gründlich umlernen!

 

Eine Hausschwester führte ein streng-liebevolles Regiment. Nebenbei sorgte sie bestens für unser leibliches Wohl, was ich nach verbrachter knapper Zeit in der „Ostzone“ sehr zu schätzen wusste.

Diakonissen sind keine Gehaltsempfänger, sondern erhalten bei freier Wohnung, Verpflegung und sonstigen Ausgaben (Urlaubsgeld, Kleidergeld etc.) ein reichlich bemessenes Taschengeld. Unser erstes betrug 16,00 RMark. Aber es war ja noch vor der Währungsreform, da gab es sowieso nichts zu kaufen.

 

Im Mutterhaus lebte es sich sorglos und behütet, wenngleich uns – besonders mir, als Jüngste, viele etwas zu sagen hatten. Ich steckte voller Tatendrang, hatte viele Ideen und musste in die dafür richtigen Schranken gewiesen werden (Türen knallen, Treppengeländer runterrutschen etc. hatte zu unterbleiben).

 

Einmal in der Woche war Probeschwesternunterricht, in dem mir – wie ich schon erwähnte – ins Diakonissenleben hineingestolperten Wesen – der Sinn des Diakonissenseins richtig nahegebracht wurde. „Ancilla Domini“ – Magd des Herrn, so drückte es die Oberin eines schlesischen Mutterhauses in einem Gedicht aus. Dienen! Wem? Die Bibelstelle unseres Hauses 1. Joh. 4.1: „Lasset uns ihn lieben (Jesus), denn er hat uns zuerst geliebt,“ – ist auf den Kerzen eingraviert, die wir zu unserer Diakonissen-Einsegnung bekamen und seitdem an einer Kette tragen. Doch bis dahin lag noch ein weiter Weg vor mir!

 

Der wichtigste Raum im Mutterhaus, in dem gemeinsames Essen, Andachten, Bibelstunden etc. stattfanden, war der Mutterhaus-Esssaal (viel später wurde im Erdgeschoss eine Kapelle gebaut). An den Esssaal grenzte das Wohnzimmer, eine rote Plüschherrlichkeit, die irgendwann modernisiert wurde.

Sonntagsabends wurde da vorgelesen – an Radio und Fernsehen war noch nicht zu denken. Dabei konnte man gut Handarbeiten, und der Leseabend fand allgemeine Beliebtheit, zumal es immer interessante, meiste hochaktuelle Bücher waren.

 

Die Küche für Mutterhaus und Krankenhaus befand sich im Souterrain und unsere noch rüstigen Feierabendschwestern gingen vormittags zum Gemüseputzen rüber, wo heute das Schulgebäude und die Psychiatrie stehen, dehnte sich der Garten mit Wäschetrockenplatz und zahlreichen Beerensträuchern. Wer von uns abends Zeit hatte, konnte sich beim Beerenpflücken nützlich machen. Diese wurden in der Küche zu Marmelade verarbeitet für Schwestern und Patienten. Aber zurück zu mir! Ein Problem für mich war unsere Haube! In der Mutterhaus-Plättstube frisch gestärkt, musste sie gefaltet und eingezogen werden. Das gelang einigen Schwestern vorbildlich, anderen darunter ich – hatten damit echte Schwierigkeiten. Wobei das nicht die einzige Schwierigkeit war. Heute weiß ich, dass ich der Geduld meiner Mitschwestern einiges abverlangt habe. Vorwurfsvolle Blicke, Kopfschütteln, vor allem wegen meiner lockeren Redeweise. Vieles wurde mir erst später bewusst! Ich fand meine Umgebung einfach spannend!

 

Unsere Kirche mit den Bildern von Prof. Rudolf Schäfer. Er saß im Gottesdienst mit Frau und Töchtern in der Bank vor uns. Die Kirche war voller „Hauben“, links die Diakonissen in noch großer Zahl, rechts wir jungen, die es werden wollten.

Veranstaltungen im Buhrfeindsaal

Zurzeit von Frau Oberin von der Decken fand jedes Jahr eine Schwesterntagung statt. Dazu kamen auch die Schwestern aus den Gemeinden und den von uns besetzten Krankenhäusern zusammen. Für uns Junge hieß es da, Namen und Arbeitsplätze zu lernen! Die Tagung mit vielen interessanten Veranstaltungen, Vorträgen, aber auch mit fröhlicher Geselligkeit endete mit Frau Oberins Geburtstag am 26.April.

 

Veranstaltungen gab es im Rotenburger Mutterhaus nicht zu knapp – dank des Buhrfeindsaals – geräumig und mit Bühne! Nicht nur wir, ganz Rotenburg „veranstaltete“ bei uns! (Das Gemeindehaus und „Haus Niedersachsen“ gab es ja noch nicht!) Die Stadtkirchengemeinde, die „Lübecker Kammerspiele“, die Hohensteiner Puppenspiele, auch der Rotenburger Männergesangsverein – so war, ohne Radio und Fernsehen bei uns an vielen Abenden was los!

Die Zeit bis zur Diakonisse

Ja, aber irgendwann war die sorglose Zeit im Mutterhaus vorbei. Es begann mein 1. praktischer Einsatz in den Rotenburger Anstalten auf einer Kinderstation. Wegen der Erkrankung einer Mitarbeiterin wurde ich gleich am ersten Morgen mit 20 Kindern allein auf die „Sportwiese“ geschickt. Nach Ansicht der Stationsschwester musste eine Mutterhausschwester das können!“ Ich verbrachte die ganze Zeit damit, die Kinder zu zählen. Trotzdem war mir einer weggelaufen, zum Glück war er wieder auf der Station gelandet, bevor ich es überhaupt gemerkt hatte!

 

Als nächstes – Chirurgische Frauenstation. Das grenzte ans Chaotische! Ich erinnere mich, dass ich beim Putzen – unsere Patientenzimmer mussten wir noch selbst saubermachen – mit der Leiter auf den großen Schrank im 6-Bettenzimmer stieg und dort übermütig beinbaumelnd sitzenblieb. Unglückerweise war unter den Patientinnen eine, die einen heißen Draht zu unserer Obrigkeit hatte. Ich bekam ein Donnerwetter, das konnte sich hören lassen!

 

Um Irrtümern vorzubeugen: Alle Stationsschwestern, denen ich danach das Leben schwergemacht habe, waren später liebevolle und keineswegs nachtragende Mitschwestern. Einige sind für mich bis heute Vorbilder, die zu meinem Reifwerden beitrugen und denen ich vieles zu danken habe!

 

Etwas Besonderes im Rotenburger Mutterhaus war der Diakonissenkursus (Die Schwesternausbildung wurde in den Mutterhäusern unterschiedlich gehandhabt). Für uns bedeutete es ein Jahr aus der Arbeit, Unterricht in geistlichen Fächern: Bibelkunde, Kirchengeschichte, Geschichte der Diakonie, aber auch Realfächer Literatur und Kunstgeschichte. Dazu Handarbeitsunterricht bei einer Fachkraft. Von den vielen Kreuzstichdecken, Kissen und Serviettentaschen existieren einige heute noch. Dann ging es auf das Krankenpflegeexamen zu. Mit theoretischem Unterricht bei den 3 Chefärzten (Chirurgie, Internist, Gynäkologe – mehr gab es damals noch nicht). Erste Nachtwache 9 Monate OP, wofür ich denkbar ungeeignet war. Dann Krankenpflegeexamen. 1952 gab es den ersten Umzug. Den Krankenhausbauten von 1905 und 1926 wurde ein neuer Bau angefügt, heute unter dem Namen Lienhophaus zum „Betreuten Wohnen“ gehörend.

 

Aber gebaut wurde, wie schon erwähnt, im und am Rotenburger Krankenhaus während meiner Zeit fast immer! Häuser wurden abgerissen, so endlich auch die Bauten des alten Krankenhauses, und durch neue ersetzt. Ein Hochhaus entstand, in dem es sich herrlich wohnte, aber es verschwand wieder, weil es die Vergrößerung des Krankenhauses so erforderte. Denn auch das erhob sich ja auf der anderen Straßenseite neu!

 

Aber ich will weiter aus dem Mutterhaus berichten! Auf das Probejahr folgte das Noviziat. Ich arbeitete wieder in den Rotenburger Anstalten, wo ich damals meinen Anfang hatte. Unsere Freizeit war knapp bemessen, ebenso die freien Wochenenden. Aber das Mutterhaus umgab uns wie eine schützende Mauer und es bot immer wieder etwas Besonderes. Das ist übrigens – bis heute so! Z. B. das Weihnachtsfest! Unsere Weihnachtskrippenlandschaft mit den Figuren eines oberschlesischen Bildschnitzers ist bis heute sehenswert. Einmalig ist der Himmel als Hintergrund. Blaues Tuch mit naturgetreuen Sternbildern, gesteckten Goldsternchen!

1953 verstarb Frau Oberin von der Decken und Schwester Rosemarie Eisenberg aus Bethel wurde ihre Nachfolgerin. Jung und unternehmungslustig, mit viel Kameradschaftsgeist, war man an ihr einfach näher dran, als an unserer auf Distanz verehrten alten Oberin.

Das Leben als Diakonisse

Ja, und irgendwann, d. h. genau am 15. Februar 1955 wurden 11 Schwestern, darunter ich, zu „fertigen“ Diakonissen. Im Rahmen eines Festgottesdienstes, nachdem wir im Zimmer unserer Oberin unsere Kreuze bekamen, erhielt jede ihren Einsegnungsspruch. Der meinige, Phil. 4, 13 lautet:

„Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“

Damit bin ich beim Eigentlichen: 70 Jahre im Diakonissen-Mutterhaus! Bin ich dem Ruf zur Diakonisse immer gerecht geworden? Bestimmt nicht! Viel Arbeit, die mir Freude machte – ich machte die Ausbildung zur Ergotherapeutin und war in diesem Bereich noch fast 30 Jahre tätig, indessen bin ich längst „Feierabendschwester“. Der Wunsch, auszuziehen und ein anderes Leben zu beginnen, ja, den habe ich zwischendurch auch gehabt. Doch etwas, nein, ich weiß genau was, bzw. wer mich hier gehalten hat!                      

Viele liebe und verehrte Mitschwestern sind indessen verstorben, Schwestern, die als „Säulen des Hauses“ bezeichnet wurden. Aber wer auch immer keine Säule ist, kann sich doch als kleiner Baustein einbringen. Heute sind wir eine kleine Zahl und es kommen keine mehr dazu. Aber wie der Prediger Salomo sagt: „Alles hat seine Zeit!“ Und wir letzten bemühen uns, mit unserer kleinen Kraft immer noch da zu sein, wo man uns braucht!

Wie lange noch? Das darf ich getrost dem überlassen, der mich – ich weiß es heute genau – diesen Weg geführt hat!       

August 2017                         

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DIE ROTENBURGER DIAKONIE IM NATIONALSOZIALISMUS ​

Diakonissen-Mutterhaus, Rotenburger Krankenhaus und Rotenburger Anstalten 1933–45